2. Januar 2020
Sehr geehrte Abgeordnete zum Nationalrat und Mitglieder der politischen Parteien,
Wir, die unterzeichnenden Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Verbände der palästinensischen Zivilgesellschaft, schreiben Ihnen bezüglich des Entschließungsantrags (141/A(E)) „Verurteilung von Antisemitismus und der BDS-Bewegung“, der von allen Fraktionen gemeinsam zur Debatte und Abstimmung durch den Nationalrat eingereicht wurde.
Wir begrüßen alle echten und ernsthaften Bemühungen zur Bekämpfung des Antisemitismus, insbesonders angesichts des zunehmenden antijüdischen Fanatismus und der Hassverbrechen in Europa, weil wir wie Sie Antisemitismus als eine der schädlichsten Formen des Rassismus entschieden ablehnen.
Zugleich erwarten wir von Ihnen, dass Sie anerkennen, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht dazu missbraucht werden darf, den Kampf gegen andere Formen von Rassismus und Rassendiskriminierung zu unterdrücken, egal wer der Täter ist.
In diesem Zusammenhang möchten wir Sie daran erinnern, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) kürzlich bekanntgegeben hat, dass er davon überzeugt ist, dass Israel im besetzten palästinensischen Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, und dem Gazastreifen, Kriegsverbrechen begangen hat und auch weiterhin begeht, und dass er eine offizielle Untersuchung einleiten wird.Wir erwarten von Ihnen, dass Sie anerkennen, dass es rechtlich falsch und moralisch und politisch verwerflich ist, unter dem Vorwand der Bekämpfung des Antisemitismus friedlichen Widerstand gegen Israels Verbrechen zu kriminalisieren und zu unterdrücken.
BDS ist eine weltweite Bewegung für palästinensische Menschenrechte, die mit gewaltfreien Mitteln gegen Israels Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen kämpft. Ähnlich wie die internationale Bewegung, die zur Überwindung von Apartheid in Südafrika beitrug, führt sie friedliche Boykott-, Desinvestions- und Sanktionskampagnen (BDS) gegen israelische und internationale Institutionen und Unternehmen sowie Regierungen durch, die Israels Unterdrückung des palästinensischen Volkes unterstützen oder anderweitig ermöglichen und Israel Straflosigkeit für seine schweren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte zugestehen. Die BDS-Bewegung wird von dem breitesten Bündnis der palästinensischen Zivilgesellschaft unterstützt – und geführt – und genießt weltweit Unterstützung, auch unter Juden und Jüdinnen in den USA und in Europa.
Vor diesem Hintergrund – sowie aus den unten angeführten Gründen – fordern wir Österreichs Parteien und ihre Fraktionen im Nationalrat nachdrücklich auf, den Entschließungsantrag zurückzuziehen und ihm keine Stimme zu geben oder sonstige Unterstützung zu gewähren.
Erstens basiert Ihr Entschließungsantrag auf einer missverständlichen Definition von Antisemitismus, die friedlichen Protest gegen Israels Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen fälschlicherweisemit Antisemitismus verbindet. Die Beispiele für “aktuellen israelbezogenen Antisemitismus” in der IHRA-Arbeitsdefinition, auf die sich Ihre Entschliessung bezieht, sind bewusst vage, um daraus falsche Schlüsse zu ziehen, dass nämlich Kritik an Israel immer ein Ausdruck des Hasses gegen Juden ist.
Mehr als 40 jüdische Gruppen haben die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus aus diesem Grund als ungeeignet für den Kampf gegen den real existierenden Antisemitismus und sogar als Ablenkung von diesem bezeichnet. Sie sowie zahlreiche jüdische, israelische und palästinensische Wissenschaftler, Juristen und Verfechter palästinensischer Rechte haben vor der Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition in Großbritannien, Frankreich, Österreich und anderen Ländern gewarnt und erklärt, dass diese von Israels rechtsextremer Regierung und Lobbygruppen gefördert und benützt wird um legitime Kritik an Israel und Einsatz für palästinensische Rechte zu unterdrücken und Israel vor internationalen Sanktionen für seine schweren Verstöße gegen das Völkerrecht zu schützen.
Selbst der Autor des IHRA-Dokuments hat wiederholt erklärt, dass die IHRA-Arbeitsdefinition nur der Datenerhebung dienen sollte und niemals für die Annahme und Verwendung zur Einschränkung der Meinungsfreiheit zu Israel und den Palästinensern vorgesehen war.
Zweitens verfälscht Ihr Entschließungantrag wichtige Fakten und verwendet geradezu Lügen, um die BDS-Bewegung als antisemitisch zu dämonisieren. Selbst eine flüchtige Prüfung der Webseite des palästinensischen BDS-Nationalkomitees, der breiten Koalition der palästinensischen Zivilgesellschaft, die die globale Bewegung anführt, hätte Ihnen gezeigt, dass:
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Die BDS-Bewegung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist und alle Formen von Rassismus und Diskriminierung ablehnt;
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Nichts und niemand boykottiert wird, nur weil er/sie jüdisch oder israelisch sind. BDS-Kampagnen richten sich gegen israelische und internationale Institutionen, Unternehmen und Regierungen, die den schweren Verstößen Israels gegen das Völker- und Menschenrecht Beihilfe leisten und somit mitverantwortlich sind;
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Dass der BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft von 2005 gewissenhafte Israelis ausdrücklich zur Unterstützung einlädt, ein Ruf, dem seitdem viele gefolgt sind.
In Bezug auf Ihre Behauptung, dass die BDS-Bewegung antisemitisch wäre, weil „ihre Forderung nach dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge das Existenzrecht des jüdischen Staates in Frage stellt”, stellen wir nochmals klar: Ziel der BDS-Bewegung ist, dass Israel seinen Verplichtungen aus dem Völker- und Menschenrecht nachkommt. Das Rückkehrrecht ist ein grundlegendes Recht jedes Menschen. Darüber hinaus wurde die UNO-Resolution, die dieses Recht speziell für palästinensische Flüchtlinge bekräftigt, seit 1948 von den UNO-Mitgliedstaaten, einschließlich Österreich, mehr als hundert Mal bestätigt.
Demnach stellt sich die Frage: Sind politische Parteien und gewählte Vertreter Österreichs, eines Rechtsstaats und Mitglied der Vereinten Nationen, der Auffassung, dass die Einhaltung des Völkerrechts durch Staaten und die Verwirklichung der grundlegenden Menschenrechte eine Bedrohung für die Existenz von Staaten darstellt? Oder dass Israel über dem Gesetz steht? Oder dass Palästinenser nicht gleichwertige Menschen sind?
Schließlich fordern Sie in Ihrem Entschließungantrag die österreichische Bundesregierung auch noch auf, gegen Grundrechte zu verstoßen, die durch die österreichischen Verfassung und EU-Recht geschützt sind. Ausgehend von der falschen und diffamierenden Anschuldigung des Antisemitismus gegen die BDS-Bewegung, fordern Sie nämlich die Regierung dazu auf, Organisationen, Vereinen und Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppen, die deren Ziele verfolgen, keinerlei Räumlichkeiten, Infrastruktur oder finanzielle Förderung zu gewähren.
Wir erinnern Sie daran, dass das Recht, sich für friedliche Boykotte einzusetzen, um Ungerechtigkeiten zu beenden, unter das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung fällt, ein Recht, das von österreichischen Parteien und gewählten Vertretern respektiert werden sollte, auch wenn sie die Ziele und Taktiken der BDS-Bewegung ablehnen. Es ist ein Recht, das durch die österreichische Verfassung (Artikel 13), die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 10) und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Artikel 19) geschützt ist. Dementsprechend haben sowohl die Europäische Union als auch die Regierungen der Niederlande, Irlands und Schwedens, das spanische Parlament und das Oberhaus des Schweizer Parlaments bekräftigt, dass sie das Recht von Bürgern und Bürgerinnen BDS-Kampagnen durchzuführen anerkennen.
In Deutschland, wo beschämende Anti-BDS-Resolutionen von der Art Ihres Entschließungantrags von deutschen Stadt- und Länderparlamenten und dem Bundestag verabschiedet wurden, appellierten 240 jüdische und israelische Wissenschaftler, darunter renommierte Experten für Antisemitismus und die Geschichte des Holocaust, an die Bundesregierung, die Resolution des Bundestages abzulehnen, BDS nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen und Meinungsfreiheit zur Verteidung palästinensischer Rechte nicht zu unterdrücken.
Darüberhinaus haben deutsche Gerichte wiederholt Stadtverwaltungen für Verletzungen der Grundrechte auf Gleichheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit verurteilt, nachdem sie örtlichen Vereinen und Einzelpersonen die Nutzung öffentlicher Veranstaltungseinrichtungen auf der Basis dieser Anti-BDS-Resolutionen verweigert hatten. In zwei Fällen hat ein deutsches Gericht ausdrücklich klargestellt: „[Diese Beschlüsse] sind keine Rechtssetzungsakte, sondern politische Resolutionen bzw. Willensbekundungen. Sie allein vermögen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen bestehenden Rechtsanspruch einzuschränken.“
Wir appellieren an Österreichs Parlament und Bundesregierung: Respektieren Sie unser Recht und das Recht österreichischer Bürger und Bürgerinnen BDS-Kampagnen für palästinensische Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit durchzuführen und zu unterstützen.
Unterzeichner:
Palestinian Human Rights Organizations Council (12 Palestinian human rights organizations)
General Union of Palestinian Workers
Federation of Independent Trade Unions
Palestinian Trade Union Coalition for BDS (PTUC-BDS)
General Union of Palestinian Women
Union of Palestinian Farmers
General Union of Palestinian Teachers
Palestinian Federation of Unions of University Professors and Employees (PFUUPE)
General Union of Palestinian Writers
Union of Public Employees in Palestine-Civil Sector
General Union of Palestinian Peasants
Union of Palestinian Charitable Organizations
Union of Professional Associations
Agricultural Cooperatives Union
Council of National and Islamic Forces in Palestine
Palestinian NGO Network (PNGO)
Palestinian National Institute for NGOs
Global Palestine Right of Return Coalition
National Committee to Commemorate the Nakba
Civic Coalition for the Defense of Palestinian Rights in Jerusalem
Coalition for Jerusalem
Occupied Palestine and Syrian Golan Heights Initiative
Grassroots Palestinian Anti-Apartheid Wall Campaign – Stop the Wall
Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel (PACBI)
Popular Struggle Coordination Committee (PSCC)
Women Campaign to Boycott Israeli Products
Palestinian Economic Monitor
National Committee for Grassroots Resistance